Im Vollbesitz meiner Sinne stehe ich vor Euch
Der das Leben kennt & vom Tode das was ein Lebender weiß
Der Leid gelitten der die Freuden der Liebe erfuhr
Der seine Ideen hat durchsetzen können hin und wieder
Kenner einiger Sprachen
Nicht übel herumgekommen
Habe den Krieg gesehen in Infanterie Artillerie
Bin am Kopfe verletzt unter Chloroform trepaniert
Habe in grausamem Kampf meine besten Freunde verloren
Von Altem und Neuem weiß ich soviel ein Einzelner wissen kann von beidem
Und ohne weiter meine Ruhe zu verlieren ob dieses Krieges
Zwischen Uns für Uns meine Freunde
Verdamme ich diesen langen Streit zwischen Tradition und Erfindung
Der Norm und dem Wagnis
Ihr deren Maul den Göttlichen Lippen gleicht
Jenem Maul das die Ordnung selbst ist
Habt Nachsicht beim Vergleichen jener
Die die Perfektion der Ordnung vollstreckt haben mit Uns
Die wir vor allem das Wagnis suchen
Wir sind Euch nicht feind
Wir wollen Euch weite fremde Reiche schenken
Wo sich das Wunder der Blumen dem schenkt der sie pflückt
Neue Feuer darin Farben die nie jemand gesehen
Tausende unwägbare Geister die darauf warten
Wirklich zu werden
Wir wollen nach Güte forschen dem riesigen Land wo alles schweigt
Dort auch währet die Zeit die man jagen kann oder sie einholen
Nachsicht mit uns die wir stets an Grenzen kämpfen
Des Grenzenlosen und der Zukunft
Mit unsren Fehlern habt Nachsicht mit unsrer Schuld
Mit Gewalt wird der Sommer seine Zeit anbrechen
Und mit dem Frühling zieht auch meine Jugend ins Grab
O Sonne es ist Zeit für die glühende Vernunft Ich warte
Ihr auf immer zu folgen der edlen zärtlichen Form
Die sie annimmt auf dass ich liebe nur sie
Sie kommt und zieht mich an sich wie ein Magnet
Sie hat das aufreizende Antlitz
Einer anbetungswürdigen Roten
Ihr Haar sei aus Gold wird man sagen
Ein schöner Blitz von langer Dauer
Oder Flammen züngelnd
In welkem Rosentee
Aber lacht aber lacht über mich
Menschen von überall her vor allem hier
Sovieles das ich Euch zu sagen nicht wage
Vieles das zu sagen Ihr nicht dulden würdet
Habt Nachsicht mit mir
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Wort für Wort aneinandergereiht, manchmal nicht festzulegen, ob ein Wort Subjekt des kommenden, oder Objekt des vergangenen Prädikats sei, man denke an die kubistischen Bilder mit ihren Würfeln, deren sechs Seiten gleichermaßen und gleichberechtigt zu sehen sind, un coup de dés;
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Wilhelm Albert Vladimir Apollinaris de Wąż-Kostrowitcky
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Wie bei einem Würfel, dessen Seiten durch Kanten zur Kippfigur geklappt sind, gibt es Begriffe, deren Augenzahlen an Apollinaire in unterschiedliche Werte brechen. Der Militärbegriff Avantgarde.
Nun ja, Clausewitz.
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Dass in bewegten Zeiten die Wörter sich unversehens auseinanderziehen, von gemeinsamen in entgegengesetzte politische Lager, bis sie ihre Bedeutungen vollständig verkehrt haben — der Begriff der Masse, der bei Ernst Jünger corps, bei Bertold Brecht peuple meint — gilt auch für die künstlerischen Avantgarden nach 1910. Spätestens 1914 tun sich, mit Louis Althusser zu sprechen (“Pour Marx”, er zitiert Lenin), Demarkationslinien auf.
Was wäre aus Apollinaire geworden, der den Surrealisten den Namen gab und den Futuristen nahestand — Trotzkist wie Breton, Faschist wie Marinetti? Der als klandestiner Bohemien bedauerte, aufgrund seiner Kriegsverletzung nicht weiter am Großen Vaterländischen Krieg teilnehmen zu können? Der in La jolie rousse eine Metamorphose vom virilen Landser (“Artillerie/Infanterie”, “trepaniert”) zum lyrischen Liebenden und Schenkenden vollzieht, die bestenfalls durch ein unterschlagenes Semikolon demarkiert wird?
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Am 9. November 1918 verließ Giuseppe Ungaretti kurz die Wohnung des an der Spanischen Grippe erkrankten Apollinaire. Ungaretti erfuhr draußen von der Abdankung des deutschen Kaisers. Als er durch die Massen der Jubelnden zurück ins Haus rannte und, um es zu erzählen, in der Wohnung des Freundes anlangte, lebte dieser nicht mehr.
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La jolie rousse
Me voici devant tous un homme plein de sens
Connaissant la vie et de la mort ce qu’un vivant peut connaître
Ayant éprouvé les douleurs et les joies de l’amour
Ayant su quelquefois imposer ses idées
Connaissant plusieurs langages
Ayant pas mal voyagé
Ayant vu la guerre dans l’Artillerie et l’Infanterie
Blessé à la tête trépané sous le chloroforme
Ayant perdu ses meilleurs amis dans l’effroyable lutte
Je sais d’ancien et de nouveau autant qu’un homme seul pourrait des deux savoir
Et sans m’inquiéter aujourd’hui de cette guerre
Entre nous et pour nous mes amis
Je juge cette longue querelle de la traditions et de l’invention
De L’Ordre de l’Aventure
Vous dont la bouche est faite à l’image de celle de Dieu
Bouche qui est l’ordre même
Soyez indulgents quand vous nous comparez
A ceux qui furent la perfection de l’ordre
Nous qui quêtons partout l’aventure
Nous ne sommes pas vos ennemis
Nous voulons vous donner de vastes et d‘étranges domaines
Où le mystère en fleurs s’offre à qui veut le cueillir
Il y a là des feux nouveaux des couleurs jamais vues
Mille phantasmes impondérables
Auxquels il faut donner de la réalité
Nous voulons explorer la bonté contrée énorme où tout se tait
Il y a aussi le temps qu’on peut chasser ou faire revenir
Pitié pour nous qui combattons toujours aux frontières
De l’illimité et de l’avenir
Pitié pour nos erreur pitié pour nos péchés
Voici que vient l‘été la saison violente
Et ma jeunesse est morte ainsi que le printemps
O Soleil c’est le temps de la Raison ardente
Et j’attends
Pour la suivre toujours la forme noble et douce
Qu’elle prend afin que je l’aime seulement
Elle vient et m’attire ainsi qu’un fer l’aimant
Elle a l’aspect charmant
D’une adorable rousse
Ses cheveux sont d’or on dirait
Un bel éclaire qui durerait
Ou ces flammes qui se pavanent
Dans les roses-thé qui se fanent
Mais riez riez de moi
Hommes de partout surtout gens d’ici
Car il y a tant de choses que je n’ose vous dire
Tant des choses que vous ne me laisseriez pas dire
Ayez pitié de moi
Gedicht zititert aus: Guillaume Apollinaire, Poesie, ed.: Renzo Piano, Roma 1989, S. 225ff.
Eigene Übertragung.